Praxis: Doppelrollen

Der Fluch der Fähigen
Vermutlich kennt ihr den Witz: “Weil ich meine Arbeit immer schnell und ordentlich erledige bekomme ich zum Dank die Arbeit der anderen dazu.”. Dieser Witz ist leider pure Realität und weil Aufgaben oft mit bestimmten Verantwortungen einhergehen, kommen neue Verantwortungen meist gratis mit; zumindest wenn man die Aufgaben nicht schlecht erledigt. Die Verantwortungen wiederum sind Teil bestimmter Rollen und so “gewinnt” man manchmal eine komplette Rolle.


Fluch und Segen
Nun hat ein Tag nur 24 Stunden und auch wenn wahrscheinlich alle jemanden kennen, die/der “mit 4 Stunden Schlaf auskommt”: Unsere Zeit ist begrenzt, besonders die produktive.
Jede Rolle unserer Organisation können wir also nicht übernehmen. Andererseits ist es schön, Dinge selbst entscheiden zu können, indem man die Rolle deren Entscheidung man grad benötigt, zufällig selbst innehat.


Was denkst Du?
Ich habe eine Liste von Vor- und Nachteilen erstellt, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, Schreibt mir gern eine Mail, wenn euch weiter Punkte/Aspekte einfallen, die erwähnt sein sollten. Überwiegen aus eurer Sicht die Nachteile oder die Vorteile?

  • Nachteil: Kreativitätsverlust
    Wenn der Wettstreit der Ideen als Diskussion zweier Rollen im Kopf nur einer Person stattfindet wird die Diskussion kurz und einseitig.
    Vorteil: Schnelle Entscheidungsfindung
  • Nachteil: Interessenkonflikte
    Wenn jemand eine Doppelrolle hat, ist es für Dritte unklar, aus welcher Verantwortung eine Aussage abgeleitet ist. Es ist nicht erkennbar, warum etwas gesagt oder entschieden wurde.
    Z.B. könnte ein Tester-Scrum Master sagen: “Das können wir den Kunden nicht liefern!”. Es ist unklar, ob der Tester spricht und Qualitätsmängel sieht oder der Scrum Master, der zuvor ein Review mit der Product Ownerin erwartet. Als Entwickler ergeben sich zwei Lösungsvarianten: Die Qualität verbessern oder ein Review mit der Product Ownerin planen.
    Vorteil: Keiner, allenfalls für den Doppelrolleninhabern: Er kann Fehlentscheidungen verschleiern, weil Entscheidungsgründe mehrerer Rollen verfügbar sind.
  • Nachteil: Unklarheiten im Prozess
    Mit der Zeit verschwimmen in den Köpfen aller Beteiligten die Rollen-Grenzen: Wenn eine Entwicklerin zugleich Product Ownerin ist erscheinen anderen Entwicklern Teile der Product Ownerinnen-Aufgaben als Entwickler-Aufgaben. Spätestens beim Priorisieren des Product Backlog können Konflikte zwischen mehreren Entwickler*innen-Product Owner*innen zu einem Problem werden.
    Das Aufweichen des Prozesses auf diesem Weg ermöglicht dessen freie Auslegung nach Lust und Laune der/des Einzelnen.
    Vorteil: Keiner.
  • Nachteil: Bus-Factor
    Je mehr Rollen und Verantwortungen einzelne Mitarbeiter*innen haben desto größer das Risiko für die Organisation bei ihrer Abwesenheit. Oft genügt ein Urlaub oder Krankheit – oder eine Kündigung (bspw. wegen Überlastung/Überforderung/Burnout/…). Auch ohne das Ableben entsteht ein Schaden für die Organisation: Bei Urlaub, Krankheit, etc. sogar wiederkehrend.
    Vorteil:
    Keiner, allenfalls für Doppelrolleninhaber: Er hat es leichter sich Vorteile für seine “Unabkömmlichkeit” auszuhandeln, bspw. ein höheres Gehalt.
  • Nachteil: Priorisierungsfehler
    Oft zeigt sich die Brillanz eines Menschen in kritischen Situationen. Schwierig wird es, wenn sich zwei dieser Situationen treffen, die eigentlich in 2 Rollen getrennt und dadurch entkoppelt hätten sein sollen. Wenn bspw. ein Entwickler-Scrum Master kurz vor der Retrospektive einen kritischen Fehler findet: Um den Fehler schnell zu beheben kann es passieren, dass er vergisst die Retrospektive vorzubereiten; das kann richtig sein, wenn der Fehler wichtiger ist. Wenn er jedoch einfach diesen Gedanken vergisst (“tyranny of the urgent”), also nicht priorisiert, ist das potentiell ein Problem.
    Vorteil: Keiner.
  • Nachteil: Blinde Flecken der Personalplanung
    Wenn eine Rolle personell “besetzt” ist, ist der Bedarf gedeckt. Ob sie vollumfänglich wahrgenommen wird ist eine andere Frage. Es besteht also das Risiko, dass einerseits der Rolleninhaber denkt die Rolle wahrnehmen zu müssen “weil sonst keiner da ist”. Andererseits wird
    niemand gesucht, weil die Rolle ja besetzt ist.
    Vorteil: Geringere Personalkosten für die Organisation
  • Nachteil: Empfundene Notwendigkeit
    Die empfundene Notwendigkeit kombiniert mit der Schwierigkeit geeignete Mitarbeiterinne anzuwerben verstärken den Druck grad auf verantwortungsbewusste, hilfsbereite Mitarbeiterinnen eine Doppelrolle wahrzunehmen.
    Vorteil: Verantwortungsbewusste, hilfsbereite Doppelrolleninhaber*innen können ihrer Neigung nachgeben, laufen jedoch Gefahr sich zu verausgaben, dadurch Fehler zu machen oder gar ganz auszufallen.
  • Nachteil: Multitasking
    “1st rule of multitasking: Don’t” (frei nach der “1sr rule of scaling”): Es funktioniert einfach nicht! Und zwar nie – auch nicht für Frauen: Nie!
    Wer es ausprobieren möchte: Startet einen Timer und schreibt die Zahlen von 1-26 und die Buchstaben von A-Z abwechselnd nebeneinander: Also "A1", B2", usw. Notiert euch am Ende die Zeit, startet einen zweiten Timer und schreibt zuerst nur die Zahlen von 1-26 nebeneinander und darunter nur die Buchstaben von A-Z: Also "ABCD…" und danach "12345…". Dann stoppt erneut und vergleicht beide Zeiten.
    Doppelrollen verwischen den Fokus und zwingen uns zu parallelen Aufgaben (“mutlitasking”) oder schnellen Wechseln (“task-switching”). Jeder Wechsel verursacht zusätzlichen Aufwand, um sich wieder in den Aufgaben-Kontext hineinzudenken (“Vorbereitungseffekt”). Die verlorene Zeit und Energie fehlt uns in der Aufgaben-Umsetzung.
    Vorteil: Keiner, allenfalls ein Gefühl höherer Produktivität

Feedback
Wenn ihr Anmerkungen, Ideen, Vorschläge oder anderes Feedback zu diesem Artikel habt schreibt mir gern eine Mail an Feedback[at]scrummastersmind.com

Quelle:

  • Markus Leitner, Blog-Post vom 26.08.21, Link: https://markus-leitner.de/doppelrollen-ein-weg-aus-der-misere/, heruntergeladen am 18.03.23)